[...] Aber die „reine Form“ bleibt eine Vorstellung abstrakter Anschauung, nur die Idee einer als Ideal gedachten Architektur. „Reine Form“ kann nicht sein. Sie tauche, wie Romano Guardini in seiner Philosophie des Lebendig-Konkreten sagt, nur im Augenblick der Vernichtung auf; in dem Augenblick, da das Lebendige seins- und denkunmöglich wird. Lebendige Form, so der Philosoph, sei immer von einem „Was“ getragen, sei immer Seinsweise, Wirkverhalten eines anderen, das selbst nicht Form ist. Die Ungerssche Architektur ist auf das Lebendige gerichtet, auf einen Ort, auf Zeit und Raum – in jedem einzelnen Fall geht es um den Versuch einer Annäherung an das gedachte Ideal, das unerreichbar nur als „geistiger Gehalt“ in den Formen aufgehoben ist. Abstraktion führt stets zu einer Verallgemeinerung, legt das mit anderen Dingen Gemeinsame frei, ist beständige Arbeit am Typus, um nach Abstrich des Individuellen das Konstante, das Wesen in der Form sichtbar werden zu lassen. Aber keine architektonische Form kann ohne ein Mindestmaß an Fülle sein. Auch das „Haus ohne Eigenschaften“ kennt seinen Ort und seine Zeit, „geschliffen bis auf den absoluten Kern“ und doch mehr als bloße Abstraktion, ein Haus, wie der Philosoph sagt, aus „individuell gebundener Allgemeinheit“. Diese Form kennt den Weg der Herkunft der Architektur als Kunst – gebaute Geschichte: Ein Haus voll Erbe.
Autor: Uwe Schröder
Titel: Die Idee der reinen Form
Sammelband/Zeitschrift: in: Werkheft08, mens architecturae, Oswald Mathias Ungers zum 80. Karlsruher AIV Miniaturen; wiederabgedruckt, in: Der Architekt 5-6/2006
Ort: Karlsruhe
Datum: 2006
Seite(n): S. 11
Anmerkung: Eine Anmerkung zum Werk des Architekten Oswald Mathias Ungers anlässlich seines 80. Geburtstages am 12. Juli 2006